09. Oktober 2013
Die Idee greift
Seit sechs Wochen in Betrieb: Wie der Unterrichtsalltag in der Sophie-Scholl-Schule Hanau funktioniert
Am 20. August wurden die ersten 32 Erstklässler in die neu gegründete Sophie-Scholl-Schule in der Lamboystraße 50 eingeschult. Seit sechs Wochen werden sie in der ganztägigen inklusiven Grundschule in freier Trägerschaft des BWMK (Behinderten-Werk Main-Kinzig e.V.) beschult. Wie das Konzept und der Unterrichtsalltag funktionieren, berichten Schulleiterin Mareike Meister, Grundschullehrerin Mirjam Kullmann und Förderschullehrer Peter Kluge.
Frage: Wie haben Sie die ersten fünf Schulwochen erlebt?
Mirjam Kullmann: Ich finde, es ist ganz gut angelaufen. Zwar ist es anstrengend und viel Neues, aber es ist super aufregend. Ich gehe nach der Schule nach Hause und freue mich. Und ich komme auch am nächsten Tag wieder in die Schule und freue mich. Man hat ganz viele kleine Erfolgserlebnisse. Natürlich sieht man auch Baustellen, aber für dieses große Projekt läuft es sehr gut.
Peter Kluge: Den Kindern macht es Spaß. Ich denke, wir überfordern kein Kind und kein Kind langweilt sich. Dies ist ein Zeichen für einen gelungenen Start. Wir haben ganz viele Materialien, mit denen wir auch gut arbeiten können. Ich freue mich total, hier zu sein.
Mirjam Kullmann: Mir gefällt es besonders zu sehen, wie die Kinder inzwischen miteinander arbeiten - wenn man bedenkt, dass sie Erstklässler sind und wir erst in der fünften Schulwoche sind. Sie nehmen schon vieles als selbstverständlich hin und helfen sich auch gegenseitig.
Frage: Gab es schon besonders schöne Augenblicke seit dem Schulbeginn?
Mirjam Kullmann: Viele, viele, viele. Eins der schönsten Erlebnisse hatte ich in dieser Woche: Wir haben ein Plus-Kind, das nicht spricht und bei dem es sehr schwierig ist einzuschätzen, was es überhaupt kann. Wir haben schon verschiedene Methoden ausprobiert. Das Kind hat jetzt angefangen Großbuchstaben zu erkennen, die Laute dazu richtig zu sprechen und wenn man ihm Zeit gibt, kann er kurze Worte wie „Mama“ oder „Oma“ lesen. Er hat Spaß daran. Es ist zwar anstrengend, nach zehn Minuten ist er platt. Als er das erste Wort gelesen hat, hatte ich Tränen in den Augen und dachte: Das gibt’s doch nicht! Ich komme von einer Regelschule und hatte gar keine Erfahrung mit Kindern mit Behinderung. Aber ich habe gemerkt: Das ist Wahnsinn, was alles mit ihnen möglich ist und wie schön das ist, wenn die Kinder ihre eigenen Erfolgserlebnisse haben.
Peter Kluge: In unserer Klasse ist ein Schüler, der die Lautsprache nicht beherrscht. Heute im Morgenkreis hat er zum ersten Mal mit Hilfe seines Sprachcomputers gesagt: Mir geht es gut. Er hat immer versucht, sich nicht einzubringen, vielleicht war er zu aufgeregt. Bei ihm wussten wir am Anfang auch nicht, wie wir mit ihm kommunizieren können. Das hat sich stark verbessert. In Deutsch schreibt er schon Wörter mit der Anlauttabelle. Das ist ein großer Fortschritt, über den wir uns sehr freuen. Ebenso über einen Regelschüler, der schon ganze Texte im Bilderbuch nachlesen kann, wenn ich sie ihm vorher vorgelesen hat. Er hat vor der Schulzeit schon zu Hause geübt und kann schwierige Worte wie „verwirklichen“ lesen. Er kann so strategisch die Buchstaben hintereinander lesen, dass er das Wort sofort erkennt. Das ist stark.
Mareike Meister: Unter den Regelschulkinder gibt es einige, die haben schon ihre Aufgabenhefte durchgearbeitet. Sie lernen sehr schnell und wir lassen sie gewähren. Sie dürfen immer weiter arbeiten. In diesen fünf Wochen ist schon unglaublich viel bei den Kindern passiert. Sie sind hier angekommen. Wie sie sich dieses Gebäude nach und nach erschlossen haben, das fand ich sehr spannend.
Frage: Wie gehen die Schüler mit und ohne Behinderung miteinander um?
Mareike Meister: Es sind viele kleine Erlebnisse, die sich bündeln. Ein Junge fragte mich beispielsweise: Was sind denn Pluskinder? Ich antwortete: Das sind die Kinder, die mehr Unterstützung beim Lernen und im Alltag brauchen. Nach einem kurzen Moment sagte er: Dann bin ich ja auch eins. Also ein bisschen Hilfe beim Schuhe zubinden könnte ich ab und zu auch gebrauchen. Ich finde es erstaunlich, wie schnell die Kinder bemerken, was andere dazu gelernt haben. Sie können sich darüber auch ehrlich freuen. Unter den Schüler herrscht ein offener Umgang miteinander: Auch ein Plus-Kind kann mal doof sein, nervt und ist laut. Die Kinder denken nicht in den Kategorien: mein Mitschüler ist behindert oder nicht-behindert. Für sie ist es wichtig, ob sie mit dem anderen gut spielen können und ob sie ihn mögen. Wenn man die Kinder fragen würde, welche Mitschüler eine Behinderung haben, sie würden es nicht benennen können.
Mirjam Kullmann: Ich merke das auch bei mir selber. Ich habe festgestellt, dass ich nicht mehr nach Kindern mit und ohne Behinderung unterscheide, sondern danach was ein Kind kann und wo ich bei ihm ansetzen kann.
Frage: Welchen Unterrichtsstoff haben Sie in den fünf Wochen seit Schulbeginn durchgenommen?
Mirjam Kullmann: Denselben Stoff wie andere Schulen auch. Ich habe in meiner früheren Regelschule eine erste Klasse in Mathematik unterrichtet. Von daher kenne ich den zeitlichen Ablauf. Eine Erleichterung für uns ist es, dass wir mehr Stundenzeit haben, um Themen zu bearbeiten. Wir können intensiver an den Stoff herangehen. Ich habe hier auch mehr Materialien zur Verfügung, was auch wieder eine Zeitersparnis für mich ist in der Vorbereitung. Die Angst, die die meisten Eltern haben, dass ihr Kind hier nicht genauso viel lernt wie in der Regelschule, ist völlig unbegründet.
Peter Kluge: Durch die Lernzeit nach dem Mittagessen haben wir auch am Nachmittag noch die Möglichkeit, zu überprüfen, ob alles bei den Schülern angekommen ist. Dann ist die nötige Wiederholung auch keine Hausaufgabe für alle Kinder, sondern eine Übung für das Kind, das diese braucht.
Frage: Wie muss man sich die Unterrichtsgestaltung vorstellen?
Mirjam Kullmann: Wir haben die ersten Wochen nach einem Stundenplan gearbeitet. Morgens haben wir mit Deutsch begonnen, dann folgten Mathematik und Sachunterricht, einfach um den Kindern die Struktur der Materialien näher zu bringen. Inzwischen sind sie soweit, dass sie eigenständig arbeiten können. Sie entscheiden selbst, was sie machen und wann sie es machen. Wir zeigen morgens an der Tafel unseren Tagesplan: In Deutsch arbeiten wir beispielsweise an unserem Heft, die Schüler dürfen an den Stationen im Sand schreiben oder die Buchstaben kneten. Und in Mathematik haben wir Autos, die sie sortieren müssen und dazu eine passende Seite im Heft, die bearbeitet wird. Ab nächster Woche beginnen wir dann mit dem Wochenplan: Die Kinder bekommen von uns vorgegeben, was sie in der Woche machen müssen und sollen sich ihre Zeit selbst einteilen. Natürlich stehen wir dahinter und bremsen sie, wenn sie zu schnell sind oder sich zu viel zumuten. Andere Kinder muss man auch mal ein bisschen puschen und sagen: Los jetzt. Es gibt diese offenen Phasen, aber auch solche, in denen wir gemeinsam etwas machen, ein Buch anschauen oder in Mathematik etwas ausprobieren.
Frage: Wie funktioniert die Aufgabenteilung im Klassenteam?
Mirjam Kullmann: Ein Team besteht immer aus drei pädagogischen Fachkräften, FSJler und Schulbegleiter. Wir pädagogische Fachkräften haben die Fächer unter uns aufgeteilt, so wie unsere Neigungen liegen und es kümmert sich jeder selbst um die Differenzierung. Natürlich geschieht dann alles in Absprache und man gibt sich gegenseitig Tipps und nimmt Ideen an. Wir wechseln aber auch bei den Kindern durch, damit wir alle auf einen Stand kommen.
Frage: Wie sieht derzeit die Nachmittagsgestaltung aus?
Mareike Meister: Da ist einfach zu merken, dass die Kinder platt sind. Sie wollen viel Zeit für freies Spiel. Wir haben einen kleineren Ruheraum eingerichtet, wo die Kinder Hörspiel hören oder sich hinlegen und ausruhen. Musik machen sie gerne, das gemeinsame Singen geht immer. Malen ist mal okay, aber die Motivation, zu basteln oder etwas herzustellen, ist momentan so gut wie nicht vorhanden. Das ist auch okay, wir lassen das jetzt erst mal so. Nach den Herbstferien wollen wir mittels Kursen mehr Rhythmus in den Nachmittag hinein bekommen. Aber wenn das Bedürfnis nach Ruhe und freiem Spiel da ist, dann akzeptieren wir das. Unsere Erstklässler leisten unglaublich viel bis 14.15 Uhr. Es sind teilweise auch noch Fünfjährige mit dabei. Wir behalten das im Auge, bieten immer mal wieder etwas an und schauen wie der Bedarf da ist. Das wird sich verändern. Das Nachmittagsangebot wird immer mehr angenommen und auch von den Eltern genutzt. Am Anfang haben viele Eltern ihre Kinder um halb drei abgeholt, weil man gemerkt hat, es war genug. Das spielt sich jetzt langsam ein. Die meisten Kinder bleiben bis halb vier. Bis halb fünf bleiben sechs, sieben Kinder. Aber so ist es ja auch gedacht, dass es möglichst flexible bleibt für alle Beteiligten.
Frage: Welche Pläne gibt es für die nächste Zeit?
Mareike Meister: Wir haben schon einen Tag im Wildpark verbracht, die Schüler waren im Theater und morgen kommt der ADAC vorbei und am Donnerstag die Polizei für die Schulwegbegehung. Zurzeit liegt der Schwerpunkt auf der Verkehrserziehung.
Frage: Was funktioniert noch nicht so gut?
Mareike Meister: In unserem großen Kollegium ist die Kommunikation ein wichtiges Thema, bei dem wir merken, dass wir noch Strukturen nachziehen und ritualisieren müssen: Wer spricht mit wem über was, in welchem Rhythmus und in welcher Form und wie halten wir das am besten fest, damit alle fünf oder sechs Personen, die in einer Klasse zusammen arbeiten, darüber Bescheid wissen. Beispielsweise ist in der Pause etwas vorgefallen. Wie erfährt das die Kollegin, die erst um 11.30 Uhr beginnt und den Nachmittag betreut, während dem es auf einmal einem Kind schlecht geht. Daran müssen wir arbeiten.
Frage: Wie ist der Unterschied zur Regelschule?
Mirjam Kullmann: Es ist ein anderes Arbeiten. Ich habe das Gefühl, es geht mir damit besser, weil ich nicht alleine bin. Wir haben unsere Klassenteams und mit einem Team ist man sehr gut bedient. Das kann auch nicht jeder. Als Lehrer ist man in der Klasse oft ein Einzelkämpfer, man wird dazu ausgebildet und das ist dann manchmal ein Problem. Ich finde es aber sehr entlastend, weil ich weiß, ich bin nicht allein für alles verantwortlich, ich kann mir jederzeit Hilfe holen in meinem Team oder dem anderen. Das ist sehr schön. Ich finde das angenehmer. Aber anders würde es auch nicht funktionieren, nicht mit dem Anspruch den wir haben.
Peter Kluge: Eindeutig. Das ist schon ungewohnt, wie viele Erwachsene hier im Unterricht dabei sind. Und es ist ganz toll, dass man dann nicht alles hat: Also von Klassenleitung, Elterngespräche und Förderplan und auch den Ausflug alleine organisieren.
Frage: Wie sehen Reaktionen von außen aus?
Mareike Meister: Es sind alle super neugierig. Wir haben ganz viele Anfragen für Besuche, die wir versuchen für den Tag der offenen Tür am 1. November zu kanalisieren. Außerdem haben wir schon sehr viele Praktikumsanfragen. Wir hatten auch schon Leute hier, die einfach mal herein schauen wollten. Das ist auch okay. Die Öffentlichkeit wird langsam wach und bemerkt uns. Wenn es von den Eltern Rückmeldungen gab, waren die bisher positiv.
Mirjam Kullmann: Ich habe am Freitag ein positives Feedback von Eltern bekommen: Wir wären alle sehr motiviert, das käme gut an und alles funktioniere gut. Man hört von den Kindern, dass sie alle gerne in die Schule gehen. Es ist noch keines dabei, dass keine Lust auf Schule hat, was ja manchmal leider auch schon bei Erstklässlern der Fall ist.
Frage: Ihr Resümee der ersten Schulwochen?
Mirjam Kullmann: Allen, die sagen, das kann nicht funktionieren und ihr spinnt doch, wird hier bewiesen: Doch es geht, wenn man die Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommt und bereit ist, auch mal was auszuprobieren, die eigenen Schranken im Kopf zu öffnen.
Mareike Meister: Die Idee, die auf dem Papier existierte, und von der wir wussten, dass sie in Bad Nauheim und Gießen funktioniert, greift auch hier. Da greift noch nicht jedes Rädchen ins andere – natürlich nicht, das wäre auch vermessen, aber die Grundanlage funktioniert. Ich bin innerlich entspannter. Aus dieser Theorie ist jetzt Praxis geworden. Wir standen stark in der Kritik mit unserem Vorhaben. Jetzt können wir allen sagen: Kommt rein, schaut es euch an, es geht. So erschöpft man manchmal ist, so zufrieden macht es einen.
Peter Kluge: Es ist anstrengend, aber man sieht die Ergebnisse der Anstrengung. Die Kinder geben uns viel zurück.